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April

krimi

krimi ist die gemeinsame Produktion von german stage service (Theater) und Partita Radicale (Ensemble für Neue und Improvisierte  Musik) in Zusammenarbeit mit dem Drehbuchautor Orkun Ertener (u.a. "Tatort").
Ein liebgewonnenes Ritual: Sonntagabends ist Crime-Time: Batic und Leitmayr, Kain und Ehrlicher, Lena Odenthal - sie alle bringen für uns die Welt noch schnell in Ordnung, bevor der Alltag wieder zuschlägt. krimi: Eine Nacht unter vielen. Die Party tobt, die Gäste schnappen nach Luft.  Man trifft sich zum Chill-Out auf dem Hochhausdach. Sitzt auf Schornsteinen. Ruft beim Nachtradio an. Stadtmenschen erzählen von Morden, Affären, Verwicklungen. Die Kommissarin von der toten Frau im Industriehafen. Eine Frau von ihrem verschwundenen Liebhaber. Die Pathologin von Sekt und Strychnin.  „Was sind Sie? Ein Schutzengel, ein ldiot, ein Arschloch, ein Killer?" 
„Gute Liebesgeschichten beginnen nicht mit Terminator 2.“  „Ich habe niemandem etwas getan.“  „Ja, es wird einsamer im Sattel, wenn das Pferd tot ist."   „Wenn ich groß bin, werde ich Detektiv."  krimi ist kein "Tatort" für die Bühne. krimi nimmt ein Genre auseinander.  krimi spielt mit dem menschlichen Bedürfnis nach Auf- und Erlösung. krimi ist eine grenzüberschreitende Inszenierung, ein Stück Theater-Musik-Partitur, theatrales Konzert und musikalisches Theater gleichzeitig. krimi: “Smile. It wont't kill you. (But in fact it does)."
Gnadenlose Innenschau
FFT Düsseldorf / Kammerspiele
Ein Verbrechen ist geschehen. Eine ältere Frau im Hochzeitskleid findet man tot in einer venezianischen Gondel mitten im Duisburger Industriehafen. Ein Mädchen vermisst den Liebhaber. Die letzten wilden Nächte hat sie mit ihm im Hotel verbracht. Jetzt ist er verschwunden. Typische Fälle im Fernsehen oder in Kriminalromanen. Das Mädchen verkauft Karten im Kino. Zuletzt hat sie ihren Lover dort gesehen, als er „Blade Runner" sah. Ein Thriller, in dem es um die Jagd von „Replikanten" geht, Roboter in Menschenhüllen ohne seelisches Innenleben. Auf dem Dach eines Gebäudes trifft sich eine Handvoll Personen. Ihre diffusen Gesprächsfetzen drehen sich um die tote Frau im Hafen und den geheimnisvoll Verschwundenen. Eine Kommissarin ist dabei. Sie trägt Indianerbemalung und ei­ nen Köcher voller Pfeile. Und eine Pathologin, die ab und zu von ihren perversen Liebesspielen erzählt. Und ein tumber Security-Mann, der mit seinen Krimiautoren­ Kenntnissen prahlt.
Immer wenn die schrill gekleideten und geschminkten Figuren kommen oder gehen und der Dachaufgang sich öffnet, schallt hämmernde Musik herauf. Manchmal heulen sie wie Hunde, die den Mond beschwören. Sie kochen sich Kaffee hier oben, telefonieren, hören Radio. „Nightline 102,5" bringt Talkshows, wo ab und zu jemand ein Verbrechen gesteht. Marionetten, unkontrolliert zappelnd und stammelnd wie im Espresso- oder Disco-Rausch. Das Ensemble zeigt Mut zur Hässlichkeit. Vier vom „german stage service'' aus Marburg taten sich mit dem Musik-Ensemble „Partita Radicale" aus Wuppertal zusammen. Ihr mit der Schärfe eines Seziermessers exekutiertes, replikantenhaftes, eiskaltes Spiel lässt langsam das Grauen im Zuschauer herauf kriechen. Musik attackiert die blank liegenden Nerven. Akkordeon, Geige, Viola und Bassquerflöte (!) zirren, bratschen, stottern, stöhnen. Schräge Songs. Eine echte Freak-Show. ,,Freaks" von Tod Browning, ebenfalls ein Thriller. Tatort des Verbrechens: ein Zirkus. Gegen Ende der Aufführung erklingt Nino Rotas Schlussmusik aus Fellinis Film „8 1/2". Dort versammelt Marcello Mastroianni als Regisseur, dem der Bezug zur Realität abhanden gekommen ist, die Figuren seiner Phantasiewelt um sich und lässt all diese fellinesken Gestalten in einem Zirkusrund aufmarschieren. Der „krimi", der in den Kammerspielen zu sehen ist, wirkt ebenfalls wie die Ausgeburt eines in die Schaffenskrise geratenen Autors. Orkun Ertener arbeitet fürs Fernsehen (zum Beispiel für den „Tatort"). Sein Stück wirkt wie eine Art Rachefeldzug gegen die wuchernde Simulations - Ästhetik der Medien. Fragmente der Wirklichkeit, Sensationsgier, der Zwang zu spektakulären Handlungselementen: die realen Ge­ schichten hinter der Effekthascherei haben sich ins Beliebige verflüchtigt. Scheingestalten bevölkern die Fernsehserien, Kriminalromane, Filme; Scheingestalten sind auch die dumpf konsumierenden Halbtoten in den Wohnstuben und Kinosälen. Hier, auf der Bühne, erkennen wir sie wieder. Hier wird so etwas wie eine Philosophie des Krimis zelebriert, eine radikale Selbstreflexion des Mediums. Hochartifiziell. ja fast abstoßend ernüchternd muss das wirken. Doch das ist gut so. Regisseur Rolf Michelfelder hat diese gnadenlose Innenansicht einer Gattung mit seinen hervorragenden Freak-Akteuren und -Instrumentalisten beängstigend präzise umgesetzt. Da stimmt jede Geste. jeder Ton, jedes Wort. Ein brillantes Ensemble-Stück, bewusst gegen die Erwartungshaltung des Publikums inszeniert. Intelligentes Theater eben: wenig unterhaltsam, aber wahnsinnig spannend.
HEINZ HOLZAPFEL