25

April

Germania Tod in Berlin

(Heiner Müller)
 
In Ulrike Rogowskis Inszenierung des ins klassische Genre der Geschichtsdramen fallenden Stückes wird die zweigeteilte Struktur sich gegenseitig spiegelnder Szenen Basis eines Bühnenexperiments. Das Ziel ist die Auflösung der Grenzen einer konven­ tionellen Inszenierung in zwei Arbeitsschritten. Der erste besteht in der strengen Durcharbeitung und Einrichtung jeder Szene. Das Stück ist damit bühnenreif und kann und wird in dieser Fassung auch zu sehen sein. Der zweite Arbeitsschritt umfasst nun alle Szenen der DDR-Wirklichkeit. Die schon inszenierten Szenen werden in kleinere Fragmente zerteilt und die Verbindungen gekappt. Einzig die Improvisationskunst der Schauspieler soll sie in jeder Vorstellung neu verkitten. Abhängig von der Stimmung im Publikum und im Ensemble und deren Wechselwirkungen wird ein neues unvorhersehbares Mosaik von Begegnungen der Protagonisten statt­ finden. Figuren können wieder erscheinen, die der Text schon längst verschluckt hat. Die Protagonisten werden somit vitaler und Teilnehmer einer Öffentlichkeit, die jene Qualitäten besitzt, die ihr heute schon längst abhanden gekommen sind. In der Kommunikation zwischen Publikum und Bühne wird das Theater dadurch Ort kollektiver Produktion neuer szenischer Konstellationen durch nicht standardisierte Handlungen. Dadurch wird Theater politisch. Nicht nur die Grenze zwischen Bühne - Kunst und Publikum - Konsum wird durch diese Öffnung des Stückes durchlässiger. Auch lineare Vorstellungen von Geschichte werden aufgebrochen. Älteres kann später geschehen oder noch einmal oder auch nicht. Geschichte ist auch stets das Reservoir nicht verwirklichter Möglichkeiten. Für die Ästhetik der zweiten, von Vorstellung zu Vorstellung verschiedenen Fassung, heißt das, daß die durch die Inszenierung geleistete Interpretation des Stückes durch die Regisseurin von den Schauspielern in neue Fragen umformuliert wird. Die Regisseurin tritt durch die Verselbständigung des von ihr geformten szenischen Materials in ein neues Verhältnis zum Drama. Sie wird selbst wieder interpretiert. Insofern gleicht diese Form der Öffnung eines Theaterstückes durch die Arbeit am Verschwinden des Regisseurs als alleinigem Interpreten eines Autors dem Selbstverständnis Heiner Müllers und dessen paradoxer „Arbeit am Verschwinden des Autors".
„Deutschland? Aber wo liegt es?" Diese Frage, die Friedrich Schiller nicht zu beantworten wußte, weil für ihn die Spannung zwischen kulturellem Selbstverständnis und politischer Wirklichkeit zu groß war, stellt sich die MARBURGER THEATERWERKSTATT mit ihrer Deutschland-Trilogie. Der erste Teil mit dem Titel Deutschland. Kalte Erde zeichnete die Risse im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts nach. Die politische Zerklüftung, die materielle Ausbeutung weiter Teile der Bevölkerung und die kulturelle Ungleichzeitigkeit zwischen kritischer Literatur und den Träumen der notleidenden Bauern und Tagelöhner. Im Zentrum der Inszenierung steht der 1822 im damaligen Großherzogtum Hessen verübte Raub von Steuergeldern durch verarmte Bauern und Tagelöhner. Eine erstmals durchgeführte engmaschige lndizienfahndung und die überall herrschende Not verhin­ derten, daß die Täter einen Nutzen aus ihrer Beute ziehen konnten. Sie kostete sie schließlich sogar das Leben. Auch für den zweiten Teil, die Inszenierung von Germania Tod in Berlin läßt sich Friedrich Schiller bemühen: ,,Jedes Volk hat seinen Tag in der Geschichte, doch der Tag der Deutschen ist die Ernte der ganzen Zeit." Schillers Hoffnung „deutsche Größe" hat sich nicht erfüllt. Der „Tag der deutschen Einheit" ist eher Zeichen der Ausbildung von zwei deutschen staatlichen Organisationen. Die sogenannte „ Deutsche Frage", die so häufig gestellt wird, doch nie klar formuliert, deren Wortlaut niemand anzugeben weiß, beruht auf der Unkenntnis und Ignoranz gegenüber der Wirklichkeit in der DDR. Die Sicht von heute aus dem Westen auf die Ereignisse am 17. Juni 1953 durch das Stück von Heiner Müller soll ermutigen, unvoreingenommen Widersprüche in dieser Wirklichkeit ernst zu nehmen, die Menschen dahinter zu sehen.
„Für einen normalen Westdeutschen in Heilbronn oder Osnabrück ist Cottbus oder Leipzig viel weiter entfernt, viel exotischer als Timbuktu oder San Francisco, und diese Entfernung darf man nicht versuchen, mit Theater zu überspielen. Das wäre eine Lüge, man muß sie vergrößern. Wenn ein Stück in Leipzig spielt und es in Osnabrück gezeigt wird, dann muß Leipzig so fern sein wie Afrika. Nur dann kann man etwas sehen, wenn es weggerückt wird." (Heiner Müller)